ICH:WIR (Collage, 2020).
© ICH:WIR (Collage, 2020)
Eva Schmidt-Kolmer zeigte in Studien die unterdurchschnittliche Entwicklung von Wochenkindern gegenüber Tageskindern auf.
In eines ihrer Ergebnisdiagramme habe ich ein Foto von mir als Wochenkind in Bruchstücken eingefügt. Aus Vielen wird sichtbar: Eine.
Dies stellt ein zu meinem Recherchevorhaben komplettierendes Gegenstück dar. Ich möchte sichtbar machen aus Einer/m: Viele.

WIR WOCHENKINDER – Ein polyphoner Monolog

KÜNSTLERISCHE RECHERCHE ZUR AUFARBEITUNG VON DDR-VERGANGENHEIT (Stand Juli 2023)

AKTUELLES zum Arbeitsprozess

* 07/2023 Förderzusage der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: »Arbeits- und Recherchestipendium im Bereich darstellende Kunst 2023«
- Beginn der Audiotranskriptionen
* 03/2023 Antrag auf Arbeits- und Recherchestipendium des Landes Berlin für das Vorhaben "Der polyphone Monolog"
* 10/2022 - 20 geführte Interviews (ca 40 h Audiomaterial) | Interviewphase abgeschlossen
* 04/2022 bis 06/2022 - Förderung der Interviewphase durch den Fonds Darstellende Künste (Neustart Kultur)
* 02/2022 - Netzwerkbildung | Beginn der Interviews

"Wochenheime" - zum Hintergrund meiner künstlerischen Arbeit

Auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gab es eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen in kommunaler oder betrieblicher Trägerschaft, die eine außerfamiliäre Betreuung von Kindern jeden Alters ermöglichten. Der Grund dafür lag in der Notwendigkeit, die DDR-Wirtschaft zu stärken und zu erhalten. Die Berufstätigkeit der Frauen musste (v.a. aus ökonomischen Gründen) dringend ermöglicht werden – ebenso jedoch auch die Steigerung der Bevölkerungszahl der Republik. Es mussten also Voraussetzungen für die neue Doppelrolle der Frau als Mutter und Arbeitskraft geschaffen werden.
Eine besondere Betreuungsform für Kinder, die zur Gewährleistung des genannten Anspruchs in der DDR flächendeckend ausgebaut wurde, waren die sogenannten Wochenheimeinrichtungen. Hier wurden Kinder in der Regel am Montag früh von den Eltern abgegeben und Freitag Abend / Sonnabend früh abgeholt. Die sogenannten Wochenkrippen waren hierbei das wöchentliche Betreuungsmodell für die 0- bis 3-Jährigen, die Kinderwochenheime jenes für die 3- bis 7-Jährigen.
Vor allem damit ein Elternteil alleinerziehend (und das betraf in der DDR fast ausschließlich die Mütter) oder im Schichtsystem arbeiten, bzw. ein Studium abschließen konnte, wurden zwischen 1950 und 1992 mehrere 100.000 Kinder in diesen heute wenig bekannten Einrichtungen untergebracht.

Ich war eines von Ihnen. In den Jahren 1986/1987 lebte ich im Alter von 4-5 Jahren als „Wochenkind“ in einem Kinderwochenheim in Dresden.

In der DDR-Pädagogik fanden Aspekte der Bindungstheorie, die besagt, jedes Kind habe ein angeborenes Bedürfnis nach intensiver, emotionaler Nähe und könne ohne sichere Bindungsentwicklung nicht gut gedeihen, wenig Beachtung (1). In den einheitlichen DDR-Erziehungsplänen fanden sich kaum Hinweise in Bezug auf die Gestaltung des Tagesablaufs für den Bindungsaufbau des Kindes oder die emotional wichtige Eingewöhnung in der Praxis. Kinder sollten durch die sozialistische Erziehung „in zunehmendem Maße zur selbstständigen Teilnahme an der Gestaltung des Lebens im Kinderkollektiv befähigt werden.“ (2)
Welche Auswirkungen hatte das Aufwachsen in diesen Institutionen auf die seelische und geistige Entwicklung der „Wochenkinder“? Hieß nicht die vom DDR-Sozialismus geforderte Unterordnung des Individuums zugunsten des Kollektivs hier ganz konkret für die betroffenen Familien: Tränen runter schlucken, auf die Lippen beißen, in sich stets wiederholender Trennung leben, Sehnsucht und Kummer aushalten (oder nicht), die elterliche Arbeitskraft durch einen Verzicht auf emotionale Bindung und Zuwendung gewährleisten, nichts sagen, sich nicht beschweren, nicht zur Last fallen, nichts machen können? Mitmachen müssen? Bedürfnisse verdrängen? Allein schaffen? Leise sein?

Leise sein: Bis zum vergangenen Jahr gab es zu den Kinderwochenheimen, auch aufgrund vernichteter DDR-Archive, wenig wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema. (3) Folglich auch wenig Aufklärung, gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung und Anerkennung des Geschehenen und seiner Folgen. Dies ändert sich seit jüngster Zeit durch verschiedene Arbeiten (4) - auch durch das vorliegende Projekt. Doch nach wie vor ist es dem Großteil der Bevölkerung hierzulande nicht bekannt, dass es diese Einrichtungen in der DDR gegeben hat - und dass viele der ehemaligen Wochenkinder diese frühe Form der intensiven Fremdbetreuung bis heute nicht losgelassen hat. - Dauert ihr Leise Sein an?

Mit der Recherche zu „Wir Wochenkinder - Ein polyphoner Monolog“ können ihre Stimmen laut werden.

Die Interviews

In den Monaten Februar bis Oktober 2022 konnte ich mich auf eine umfangreiche "Gesprächsreise" machen und intensive Gespräche mit 20 ehemaligen "Wochenkindern" in 8 Bundesländern führen, Menschen aus allen Teilen der ehemaligen DDR.
In den geführten Gesprächen stand vor allem die soziale und emotionale (Weiter-)Entwicklung der betroffenen Personen im Vordergrund.
Ein von mir ersteller Fragen-Leitfaden bildet die Grundlage der geführten Gespräche.
Im Auszug:
Was hat dazu geführt, dass ich im Heim war? Wie ist es mir dort ergangen / woran erinnere ich mich? Was war meine Rolle / wer war beteiligt? Was hätte ich gebraucht? Was habe ich erhalten? Wie bin ich damals damit umgegangen? Was hatte es für Folgen? Wie gehe ich heute und in Zukunft damit um? -
Diese Fragen habe ich als ehemaliges Wochenkind auch selbst beantwortet.

Die Gespräche habe ich aufgezeichnet: Mir liegen nun ca. 40 Stunden Audio-Material vor.

Die in 10/2022 abgeschlossene Interviewphase wurde gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.

Zum Ablauf meiner künstlerisch-forschenden Arbeit "DER POLYPHONE MONOLOG"

Das vorhandene Audio-Material möchte ich in all seinen Expressionen zunächst transkribieren um ein Archiv zentraler Ausdruckselemente anzulegen, aus welchem ich eine Text- und Klangpartitur, den „Chor der Wochenkinder“ entwickeln werde: Einen Monolog der Vielen, in welchem bisher unerhörte Individuen als Gemeinschaft vernehmbar werden – und in Dialog treten können.

Ich möchte die in allen Interviews durchweg getätigten Ausdrücke ermitteln und speziell aufnotieren:
Das können bestimmte Wörter, Wortgruppen, beschriebene Bilder, Stimmungen, Ausrufe, Fragen, Gefühlsäußerungen, biografische Ähnlichkeiten, sich wiederholende Muster jeder Form, sowie musikalische Elemente (Atem / Schweigen / Stimmführung / Klang usw.) sein.
Aus dem so entstandenen Archiv essentieller "Ausdrucksbausteine" werde ich die Text- und Klangpartitur für Sprechchor erschaffen. Diese wird sowohl poly- als auch homophon angelegt sein: Sie wird für 20 Spieler:innen in Haupt-, Gegenchor und Einzelstimmen entwickelt, welche z.T. im Widerspruch agierend sowohl innere Zwiespälte als auch äußere Konflikte der Betroffenen spiegeln und somit für die Rezipient:innen sichtbar und ggf. auch nachvollziehbar gemacht werden können. Eine mir wichtige Herausforderung bei der Erschaffung dieser Partitur wird sein, das Chorwesen nicht in einer grundsätzlichen Opferhaltung oder Sentimentalität darzustellen, sondern seine vielfältigen Kämpfe und Kräfte sichtbar zu machen, sowie die (gesellschaftlichen) Umstände, an denen Menschen wachsen oder ggf. brechen können.

Die entstandene Text- und Klangpartitur wird von mir so erarbeitet und notiert werden, dass sie von einem Sprechchor und Musiker:innen sowohl digital als auch live performt werden kann.
Ihr Umfang sollte einer Aufführungs- bzw. Hördauer von 60 Minuten entsprechen.

Zum weiteren Ausblick: Aus den angelegten Partituren möchte ich mittels Sprachaufnahmen und Tonbearbeitungstechniken - unter Mitwirkung von sowohl ehemaligen Wochenkinder als auch professionellen Spieler:innen und Musiker:innen - eine digitale Audioskulptur des POLYPHONEN MONOLOGES produzieren - und hörbar werden lassen.

Erforschendes Arbeitsprinzip:

Welche Form der "Verschriftlichung" kann ich entwickeln, die sowohl Text/Sprache, akustische Expressionen/Klänge, als auch den Rhythmus aller gesprochenen und klingenden Anteile zueinander im Zusammenspiel lesbar werden lässt?

Können die den entnommenen und verdichteten Ausdrücken immanenten Empfindungen und Erlebnisse der Einzelnen verschlüsselt mitübersetzt und schließlich im großen Chorkörper über den expressiven / rezeptiven Prozess decodiert und „sichtbar“ gemacht werden? Könnte diese Art der Übertragung von impliziten Informationen zu einem Erkennen führen, das jenseits von Worten liegt? - So könnte das digitale Chorwesen „aus der Tiefe heraus“ zur individuellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung anregen - und darüber hinaus aufzeigen, dass der/die Einzelne in Reaktion auf Beschränkungen nicht isoliert auf sich selbst geworfen sein muss, sondern dass Kollektive entstehen können, in denen das Individuum durch die Gemeinschaft zu Ausdruck und Wachstum finden kann.